Für die deutschlandweite Kampagne „Urologie für alle“ konnten wir Marlene Keller für ein Interview gewinnen. Sie ist als Referentin für weibliche Genitalverstümmelung bei TERRE DES FEMMES und beantwortet uns Fragen zum Thema Weibliche Genitalverstümmelung. Herzlichen Dank an dieser Stelle!
Wir wollten wissen, was hinter der Praxis steckt, und wie verbreitet sie ist. Außerdem interessierte uns, welche Rolle das Thema in Deutschland spielt und was man als Betroffene tun kann.
Hier lesen Sie das Interview in Kurzfassung. Eine lange Fassung finden Sie hier.
Frage 1: Wie kamen Sie zu TERRE DES FEMMES und zum Referat Weibliche Genitalverstümmelung?
Ich arbeite seit März 2024 als Referentin für weibliche Genitalverstümmelung bei TERRE DES FEMMES. Nach meinem Jura-Studium in Passau und München ging ich nach Ghana, wo ich viereinhalb Jahre für eine NGO tätig war, die sich unter anderem für sexuelle und reproduktive Rechte von Frauen einsetzt. Dort begegnete ich Themen wie weibliche Genitalverstümmelung und Hexenverfolgung. Diese Erfahrungen motivierten mich zu einem Master-Studium im internationalen Menschenrechtsschutz, dass ich während der Corona-Pandemie abschloss. Seit März 2024 bin ich nun bei TERRE DES FEMMES tätig.
Frage 2: Warum werden Frauen beschnitten?
Weibliche Genitalverstümmelung (FGM) wird oft mit religiösen Pflichten in Verbindung gebracht, obwohl sie per se in religiösen Schriften nicht vorgeschrieben ist. FGM gilt in vielen Kulturen als Initiationsritus, der den Übergang vom Mädchen zur Frau markiert.
Eltern entscheiden sich oft aus sozialen Gründen für die Beschneidung ihrer Töchter, um ihnen gesellschaftliche Akzeptanz und wirtschaftliche Absicherung durch Heirat zu sichern. Es steht dabei keine böswillige Absicht hinter dem Eingriff. Dennoch ist FGM eine Menschenrechtsverletzung. Im Umgang mit Betroffenen ist Sensibilität gefragt, da FGM für viele den Normalfall darstellt.
Frage 3: Was bedeutet es für betroffene Frauen?
Die weibliche Genitalverstümmelung hat keine gesundheitlichen Vorteile und kann in diesem Sinne zunächst nicht rückgängig gemacht werden. Sie kann schwerwiegende physische, psychische und soziale Auswirkungen haben. Die Folgen sind individuell und hängen von der Art des Eingriffs, den verwendeten Instrumenten und dem Zustand der Betroffenen ab.
Körperliche Folgen umfassen akute Blutungen und Schmerzen, Infektionen sowie langfristige Probleme beim Wasserlassen, Inkontinenz und chronische Entzündungen. Auch das Risiko von HIV-Infektionen ist erhöht. Psychische Traumata durch den Eingriff sind häufig, da er teilweise durch Todesangst begleitet ist und oft unterstützt wird durch Familienangehörige. Dies kann psychische Folgen, wie etwa Depressionen aber auch in der Folge zu Partnerschaftskonflikten führen.
Die Auswirkungen auf die Sexualität sind unterschiedlich: Einige Frauen empfinden Schmerzen oder weniger Lust, während andere ein erfülltes Sexualleben führen können. Soziale Folgen umfassen psychische Probleme, die den Bildungsweg beeinträchtigen und zu gesellschaftlicher Ausgrenzung führen können. In manchen Regionen kann eine Scheidung den sozialen Ausschluss bedeuten.
Zusammenfassend sind die Auswirkungen der weiblichen Genitalverstümmelung vielfältig und individuell unterschiedlich. Nicht alle Betroffenen leiden unter allen genannten Folgen, aber jede Form dieser Praktik birgt schwerwiegende Risiken.
Frage 4: Wie viele Frauen sind betroffen und in welchen Ländern kommt FGM am häufigsten vor?
Aktuell sind nach den neuesten Schätzungen von UNICEF weltweit etwa 230 Millionen Mädchen und Frauen von weiblicher Genitalverstümmelung (FGM) betroffen, und rund 4,1 Millionen gelten als akut gefährdet. Die höchsten Prävalenzraten finden sich in Ländern wie Somalia, Guinea, Dschibuti, Mali und Ägypten, wo der Anteil der betroffenen Frauen und Mädchen im Alter von 15 bis 49 Jahren teils über 80 % liegt. In Somalia beispielsweise liegt die Prävalenzrate bei über 99 %, was bedeutet, dass nahezu alle Frauen und Mädchen in dieser Altersgruppe betroffen sind.
Auch Länder wie Sudan und Sierra Leone weisen Prävalenzraten von über 80 % auf. Durch Migration leben jedoch mittlerweile Betroffene und gefährdete Mädchen und Frauen weltweit, auch in Ländern, in denen FGM traditionell nicht verbreitet war.
Frage 5: Ist Weibliche Genitalverstümmelung ein Thema in Deutschland?
Ja, weibliche Genitalverstümmelung ist in der Tat ein Thema in Deutschland. Durch Migration leben inzwischen überall Betroffene und Gefährdete, auch hier in Deutschland. Aktuell geht man davon aus, dass in Europa insgesamt mindestens 600.000 Betroffene und etwa 190.000 Gefährdete leben. In Deutschland schätzen wir circa 100.000 betroffene Mädchen und Frauen und knapp 20.000 gefährdete Mädchen. Diese Zahlen stammen allerdings von vor zwei Jahren. Wir werden in diesem Jahr eine neue Dunkelzifferschätzung herausgeben, um die Zahlen neu zu berechnen. Es handelt sich, wie gesagt, um Schätzungen, da es keine genauen Statistiken gibt. Damit bildet man das Dunkelfeld ab, und es lässt sich so ungefähr einschätzen, inwiefern das Thema auch hier in Deutschland inzwischen eine Rolle spielt. Es sind vermutlich sehr viele Frauen betroffen, und damit ist es natürlich längst auch in Deutschland angekommen.
Frage 6: Wie ist die rechtliche Situation in Deutschland?
Die weibliche Genitalverstümmelung ist in Deutschland seit 2013 ein eigener Straftatbestand und wird als schwere Körperverletzung mit bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe geahndet. Sie gilt als Verbrechen und nicht nur als Vergehen, wobei auch jede Form der Beteiligung und Unterstützung (auch durch Unterlassen) strafbar sind. Seit 2015 ist sie auch als Auslandsstraftat strafbar, was bedeutet, dass sie nach deutschem Recht verfolgt werden kann, wenn die Betroffene in Deutschland lebt oder der Täter deutsche Staatsbürgerschaft bzw. seine Lebensgrundlage in Deutschland hat.
Die Verstümmelung ist auch eine Kindeswohlgefährdung, was zu Maßnahmen der Jugendhilfe führen kann. Im Asylrecht kann sie ein Grund für Schutz sein. Trotz umfassender rechtlicher Regelungen sind Anzeigen selten, da das Thema oft tabuisiert ist und Betroffene oft Kinder sind. Dies erschwert die strafrechtliche Verfolgung erheblich.
Frage 7: Männliche Vorhautbeschneidungen werden im Krankenhaus vorgenommen. Kann man das mit FGM vergleichen?
Die männliche Beschneidung findet häufig im medizinischen Umfeld statt, aber nicht ausschließlich. Es gibt auch Fälle von Beschneidungen unter unsterilen Bedingungen, die zu Komplikationen führen können.
Weibliche Genitalverstümmelung wird zunehmend auch im medizinischen Kontext durchgeführt, was als “Medikalisierung” bezeichnet wird. Trotz des medizinischen Umfelds ist diese Praxis nicht zu rechtfertigen.
Hier kommt der Unterschied: Weibliche Genitalverstümmelung und männliche Beschneidung sind zwei Praktiken, die ich nicht vergleichen möchte. Ich lehne auch die männliche Beschneidung ab. Auch TDF positioniert sich öffentlich gegen die männliche Beschneidung. Dennoch ist es wichtig zu wissen, dass die weibliche Genitalverstümmelung in engem Zusammenhang mit der Kontrolle der weiblichen Sexualität steht. Es handelt sich um eine Form der geschlechtsspezifischen Gewalt gegen Frauen. Diese Art der geschlechtsspezifischen Gewalt gibt es in diesem strukturellen Ausmaß nicht gegenüber Männern. Das ist ein wichtiger Unterschied, den es zu betonen gilt.
Frage 8: Welche Aktionen organisiert TERRE DES FEMMES zum Thema Genitalverstümmelung?
Unser Referat betreibt Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit zur weiblichen Genitalverstümmelung durch Schulungen, politische Lobbyarbeit und Datenerhebung. Wir veröffentlichen Dunkelzifferschätzungen, halten Vorträge und betreiben Öffentlichkeitsarbeit. Im EU-Projekt “Join our Chain” arbeiten wir mit der Diaspora-Community zu Früh- und Zwangsverheiratung sowie weiblicher Genitalverstümmelung, betreiben Aufklärung und verschaffen AktivistsInnen eine Stimme auf europäischer Ebene. Das Projekt läuft länderübergreifend mit drei weiteren Organisationen und geht 2025 in vergrößerter Form in die nächste Runde.
Frage 9: An wen können sich Betroffene wenden?
Die Versorgungslage mit Beratungsstellen und AnsprechpartnerInnen variiert stark zwischen den Bundesländern. In Berlin bietet die Berliner Koordinierungsstelle Unterstützung und vermittelt je nach Anliegen, z. B. bei rechtlichen, medizinischen oder psychologischen Fragen. TERRE DES FEMMES veröffentlicht regelmäßig eine aktualisierte Liste von AnsprechpartnerInnen in verschiedenen Bereichen. Betroffenen wird empfohlen, diese Liste zu konsultieren oder online nach lokalen Angeboten zu suchen. Auch Organisationen wie Pro Familia sind gute erste Anlaufstellen, von denen aus weitere spezialisierte Beratungsstellen gefunden werden können.
Vielen Dank für das spannende Gespräch. Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg bei Ihren zukünftigen Projekten und eine breite Resonanz!